Lafite 1929

… beeindruckte mich in den letzten Jahren am nachhaltigsten. Die perfekte, von S. Sutcliffe und D. Peppercorn authentifizierte Flasche bewies erneut, dass Lafite bei älteren Weinen (über 50 Jahren) das größte Lagerpotenzial aufweist. Die Ernte war schon vergoren, als am 25.10.1929 der schwarze Freitag und seine Folgewirkungen die sozioökonomischen Voraussetzungen für die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts prägten.

Ist es eine Synchronizität, dass erst nach der Flut, 1945, im Bordelais der nächste große Jahrgang gedeihen sollte?! Beim Genuss dieses Weines spürte ich deutlich: Er gehört nicht uns allein, er ist ein Geschöpf des Lebens Verlangen nach sich selbst. Die Seele dieses Weines wohnt nicht im Augenblick und auch nicht vor dem schwarzen Freitag, sie weilt in der Ewigkeit, die wir auch mit Träumen nicht zu betreten vermögen. Was für eine göttliche Essenz! Die Tannine sind im Idealzustand: Dicht, mundfüllend, schier unglaublich!

Die Grundnoten sind feine Pflaumen-Aromen mit differenziertester filigraner Kräuterwürze. Das ist charismatisch gereifte Eleganz ohne Attitüde, wie Georg Soltis Interpretationen der Mahler-Sinfonien. Über all dem schwebt ein „Parfum“, das selbst Engel betören könnte. Es ist dieser geheimnisvoll feine „Lafite-Hauch“ nach heranreifenden Zitrusfrüchten. Versetzen Sie sich in einen Zitronenhain nach Amalfi in der Semana Santa (also wintergereifte Früchte), wo die Luft duftgeschwängert ist; und dann weiter nach Florenz vor Masaccios „La Trinità“ in der Santa Maria Novella.

Lassen Sie sich als Betrachter in die Dreifaltigkeit einbeziehen. Trotz (oder wegen) der Zentralperspektive bleiben die Positionen des „Gottvaters“ und der kleinen nach unten blickenden Taube eine mystische Aporie. Wie die (ver)klingenden letzten Tropfen unseres Lafite. (Unter Berücksichtigung von Gedanken von Khalil Gibran, John Updike und Volker Gebhardt).