Die Gräfin von Pauillac

Die Gräfin von Pauillac

Château Pichon Longueville Comtesse de Lalande: Der „Super-Second“ ist bei den gereiften Weinen in Augenhöhe mit den Grands Crus!

Genuss für 100 Jahre

Um diesen Artikel für Sie verfassen zu können, besuchte ich eine große Vertikalverkostung, in der ursprünglich 100 Jahrgänge der „Comtesse“ angekündigt waren; es wurden dann letztlich 35 ausgewählte Jahrgangsproben zwischen 1875 und 1990 präsentiert. Ich ging sehr gespannt in diese Verkostung und fragte mich vor allem, wie die Entwicklung und Langlebigkeit des Weines im Vergleich zu den „Premiers Crus“ zu bewerten sein wird. Ein Blick auf die Homepage des Weingutes, die hervor ragende Jahrgangsbeschreibungen ab 1970 enthält, zeigt, dass das Weingut die Lebensdauer der eigenen Weine in guten Jahrgängen mit etwa 30 Jahren annimmt.

Dies entspricht auch den Empfehlungen der Kommentatoren (etwa Robert Parker). In diesem Licht waren wir beeindruckt von der unerwarteten Langlebigkeit der Weine. Der „1875er“ ist dem „Lafite“ eines guten Jahrganges des 19. Jahrhunderts gleichzusetzen. Die Weine aus den 1920er, 1930er und 1940er Jahren waren durchwegs eindrucksvoll, teilweise grandios. Die Lebensperiode dieser Weine ist daher mit mehr als 90 Jahren (!) und nicht mit 30 Jahren anzunehmen. Im Vergleich zu den großen „Alten“ waren die 1950er und 1980er Jahre geringfügig schwächer, mitunter auch herausragend. Eine große Schwächeperiode des Gutes sehe ich allerdings in den 1960er und 1970er Jahren (genauer zwischen 1962 und 1977).

Zwei Höhepunkte

Die regelmäßige Verkostung gereifter Bordelais-Weine, gerade aber die Comtesse-Vertikalverkostung hat mich gelehrt, dass große Weine zwei Entwicklungsspitzen haben: Eine erste zeigt sich, wenn der Wein noch durch engmaschige Tannine, Frucht und Fleischigkeit glänzt und dominiert wird (wie das etwa beim Comtesse 1987 der Fall ist). Die zweite entsteht, wenn die Tanninreife bereits sehr weit gediehen ist und der Wein seine ganze Komplexität entfalten kann. Zugegebenerma- ßen gibt es bei den „Älteren“ oft ein gewisses Balanceproblem, da die Säure meist massiv erscheint und die Extraktsüße nicht (mehr) mithalten kann. Wenn die Balance in Ausnahmefällen noch aufrecht ist (etwa 1926 oder 1945), offenbart sich die ganze Fülle und Eleganz eines Weltklasseweines.

Kleinerer Preis, große Freude

Die Gräfin von Pauillac 1Die nicht als Premiers Crus qualifizierten Weine stehen im Weinjournalismus, aber auch bei den Sammlern und Weinfreunden oft im Schatten. Was die Qualität und den Charakter der verkosteten Weine anbelangt, geschieht dies eindeutig zu Unrecht. Der Weinfreund sollte sich etwa fragen, ob er in großen Jahren (wie etwa jetzt 2009) lieber um ca. € 150,– einen Pichon Lalande oder Montrose (2er Cru St. Estèphe) subskribiert oder ob er bereit ist, ein Vielfaches für Premiers „hinzublättern“.

Im Hinblick auf die Lagerfähigkeit und den zu erwartenden Genuss ist die finanzielle Diskrepanz keinesfalls gerechtfertigt. Auch in der Comtesse-Verkostungsrunde waren die „Berufshedonisten“ überrascht. Man hörte Aussagen wie: „Ich beschäftige mich sonst nur mit Premiers Crus, aber ich muss zugeben, dass sich die gereiften Weine in außergewöhnlicher Fassung präsentieren und in einer Blindverkostung mit Ersten Gewächsen jederzeit mithalten können.“

Eleganz statt Kraft, Schmelz statt Härte

Dies erstaunt umso mehr, als es ein Markenzeichen des Châteaus ist, fruchtbetonte, weichere Weine zu erzeugen, die bereits relativ früh Trinkgenuss bieten. Der Lagerungsfähigkeit tut dies keinen Abbruch. Wieder einmal sind Kraft und Konzentration nicht das Maß der Qualität und Lagerfähigkeit der Bordelais-Weine, die sich mit diesem Mysterium selbst seit Jahrhunderten an der Spitze der Weinwelt halten. Außergewöhnlich an der Cuvée ist der hohe Merlot-Anteil, der naturgemäß je nach Jahrgang schwankt, im Schnitt aber etwa 40% beträgt und daher für das „linke“ Ufer im Mé- doc sehr hoch ist. Dieser stark gewichtete Die Gräfin von Pauillac 2Merlot-Anteil (im Gegensatz zum tannin- und farbintensiveren Cabernet) hat offenkundig keine Auswirkungen auf die Haltbarkeit des Weines. Hinzu kommt, dass das Weingut an der Grenze zu St. Julien liegt und auch 12 Hektar seiner Weingärten in dieser Gemeinde situiert sind. Auch dies mildert den Charakter des in der Jugend sonst meist etwas strengeren „Pauillac“. Der Wein lagert relativ kurze Zeit in Barriques (18 Monate), wobei nur die Hälfte der Fässer neu und die andere Hälfte ein Jahr alt ist. Die Holzintegration erfolgt daher auch bei jungen Weinen ungewöhnlich rasch. Die Vinifizierung erfolgt in temperaturregulierten Stahltanks, wo die Vergärung zügig in 18 bis 24 Tagen abgeschlossen ist. Zu Recht gilt das Weingut als ein „Super-Second“ und nähert sich in vielen Jahrgängen der Qualität eines Premier Cru an oder übertrifft diese sogar (1987–1989; 1987 ist für mich überhaupt der Jahrgangsprimus).

Geschichte des Châteaus Pichon Longueville Comtesse de Lalande

0 Die Gräfin von PauillacBis weit ins 17. Jahrhundert war das Médoc ein wildes Sumpfland, das erst langsam urbar gemacht wurde. Der Weinbau machte schnell Fortschritte. In den Annalen des Weingutes taucht der Name Pierre de Mazure de Rauzan auf, ein großer Name in der Geschichte der Bordeaux-Weine. Seine Tochter Thérèse heiratete Jacques de Pichon Longueville, den ersten Präsidenten des Regionalparlaments von Bordeaux. Damit beginnt die Geschichte des Weingutes, das fast ein Vierteljahrtausend im Besitz der Familie blieb. Die Spaltung des Weingutes in die Linie „Baron“ und „ Comtesse“ erfolgte 1840, als Comte Henri de Lalande in die Linie einheiratete. In dieser Zeit wurde auch das derzeitige Anwesen errichtet, das architektonisch vom „Hôtel de Lalande“ in Bordeaux inspiriert ist, in dem der Graf seine Kindheit verbrachte. 1855 kam es bei der Klassifikation der Bordeaux-Gewächse bei der Pariser Weltausstellung unter Napoleon III. zu einem Hö- hepunkt in der Geschichte des Gutes: Château Pichon Longueville Comtesse de Lalande erhielt den Status eines 2er Cru. Die Linie der ursprünglichen Eigentümer lief mit dem 19. Jahrhundert aus. Nach dem 1. Weltkrieg wurde das Weingut von Edouard und Louis Miailhe erstanden. Die Tochter May Eliane de Lencquesaing ist eine Legende im Bordelais und führte das Weingut ab 1978 als „Generalin“ nach den qualitativ schlechteren 60er und 70er Jahren wieder in lichte Höhen. Seit 2006 gehört das Gut zum Imperium des Champagnerhauses Louis Roederer. Die nachhaltigen Auswirkungen des Eigentümerwechsels auf die Weinqualität sind noch nicht abzuschätzen. Der Jahrgang 2009 verspricht ausgezeichnete Qualität.

Château Pichon Comtesse de Lalande.pur

Die Verkostung erfolgte im Juni 2010 in Steinbach am Attersee (Familie Wolf, WineArt). Die Herkunft der Flaschen ist für das Gelingen der Veranstaltung entscheidend. Carlo Wolf gelang es wieder einmal, perfekte Flaschen zu beschaffen.

0 Die Gräfin von Pauillac 11875 Etikett: Pichon Longueville Lalande Grandiose Flasche. Einer der besten „Vorreblausweine“, den ich je trank. Helles, transparentes Ziegelrot. Struktur völlig intakt. Knackige Säure. Merlotwürze: Liebstöckel! Zedernholz, rauchige Aromen. Unterlegt mit eleganter Bitterorange. Gewinnt im Glas! Später sogar florale Töne. Trinken!

1906 Wirkt „älter“ als 1875. Seifig, Melisse, ein Hauch von „Todessüße“, der allerdings im Glas verschwindet, später sogar grasige Cabernet-Noten. Trinken!

1923 Wieder anfänglich starke „Todessüße“. Verschwindet rasch, gewinnt durch die Oxidation. Esoterische Orangenzesten, spä- ter Heublumen. Völlig intakt. Trinken!

1925 Ein heißes Jahr in Bordeaux. Ein typischer Jahrgangsvertreter mit mineralischen Noten: Salzig, Jod. pur! Ausreichendes Säure-Spiel. Lecker, wenn auch nicht komplex. Trinken!

1926 Zu Recht von René Gabriel hoch gelobt. Wunderbar in der Balance. Ausreichendes Extrakt. Parfümiert. Puderzucker! Grapefruit-Töne, florale Noten. Frisch, frech, großartig. Trinken!

1928 Extravagant: Brot-Noten, Eierbiskuit mit Zitronenschalen. Nicht wirklich groß, aber interessant! Trinken!

0 Die Gräfin von Pauillac 31929 Anfänglich sehr verhalten, keine Tertiär-Aromen. Nach 20 Minuten im Glas Rosenduft! Hohe, aber integrierte Säure. Limettig! Spannende Würze: Fenchelsamen! Beachtlich! Trinken!

1937 Magnum Unverschämt süße, überreife Erdbeeren, Thymian. Leichtgewichtig, hohe Säure, frisch, nicht ganz ausbalanciert. Trinken!

1940 Saubere Johannis-, später Hollerbeere. Ungetrübt druckvoll, leichtgewichtig, elegant. Trinken!

1943 Leichtgewichtig. Suppengemüse: Petersilie und Seller. Seifig. Trinken!

1945 Der Höhepunkt! Wieder ein gro- ßer 1945er! Vielschichtig: Maracuja-Exotik. Balsamische, abgründige Noten: Kinderschweiß. Unglaublich mineralisch. Petrol-Töne, Goudron! Prickelnde Säure. Dicht und außergewöhnlich fleischig. Nachhaltig! Trinken!

1947 Magnum Hedonistisch zurückhaltend. Karamell, Himbeere. Nicht so dicht und balanciert wie 1945, aber vielschichtig. Metallische Anklänge. Trinken!

1949 Ein welkender Rosengarten. Kleiner Flaschenfehler! Trinken!

1952 Magnum Adstringierende Bittertöne. Geht mit der Oxidation leicht auf. Nicht ganz reife Tannine. Trinken!

1953 Magnum Unverschämte, herrliche Süße. Merlot-typische SchokoladenTöne. Tabak. Sahnige Tannine, ausgewogen. Nicht unähnlich dem großen Lafite desselben Jahrganges, vielleicht sogar mit längerem Atem? Trinken!

1955 Magnum Spannende Marzipan- und Mandel-Töne. Mittelgewichtig, jugendlich, geradezu noch knackig. Trinken! Noch lagerbar (in der Groß- flasche).

1957 Leichtgewichtige Eleganz. Hagebutte! Keine Tertiär-Aromen. Trinken!

1959 Metallische Mineralität (Rost!), ausgewogen. Mittelgewichtig, druckvoll vielschichtig. Nicht so dicht wie die großen „59er“: der kleine Bruder des Latour selbigen Jahrgangs! Trinken! Noch lagerbar.

1962 Reif, aber nicht alt. Selch-Aromen, Petersilie, später Blutorange. Trinken!

1964 Wirkt physiologisch „alt“. Balsamische Töne: Earl Grey! Vegetabil. Trinken!

1966 Herrliche Aromen: Cassis- und Johannisbeer-Töne. Salzig unterlegt. Wieder Petersilie. Der Beste der 60er-Serie. Trinken!

1970 Bereits dominierende Tertiär-Aromen: Champignons. Charmant, aber schwächelnd. Trinken!

1975 Federgewichtig, allerdings klare, ungetrübte, florale Töne. Trinken! 1978 Kork! 1979 Johannisbeere, hohe Exktraktsüße. Weich, auffallend geringe Säure bei sehr seidigen Tanninen. Karamell-Aromen. Trinken!

1980 Leichtgewichtig, aber klar und elegant: wieder Johannisbeere. Mokka-Aromen. Trinken!

1981 Vegetabile Noten: Frisch, druckvoll, Kräuterwürze. In diesem an sich schlechten Jahrgang ein beachtlicher Wein, deutlich besser etwa als Mouton! Trinken! Noch lagerbar!

1982 Ein legendärer Wein! Schmeichelnd-hedonistische Nase. Süßes Cassis. Zedernholz unterlegt mit feinblättriger Tabakwürze. Leckere Eleganz. Hier allerdings extreme Schwankungen bei den Flaschen (fassweise Füllung?). Diesmal leider keine ganz perfekte Flasche. Trinken oder lagern!

0 Die Gräfin von Pauillac 21985 Ausreichend dichte Textur. Karamell, Weichsel-Töne. Ausgewogen, engmaschige, druckvolle Säure. Trinken!

1986 Präzise und klare Frucht: Preiselbeeren! Jahrgangstypisch harte Tannine. Genauso verschlossen wie die Premiers. Braucht noch viele Jahre. Lagern!

1987 Magnum Hedonistische Cassis-Noten! Ausreichend konzentriert und doch elegant. Saftig und druckvoll, geradezu „pfeffrig“. Später großartige Rosenseife. Lässt in diesem Jahr alle Premiers hinter sich. Lagern oder trinken!

1988 Klassisches Zedernholz, Pflaume, sehr lecker. Einer der besten Weine dieses Jahrganges am linken Ufer. Trinken!

1989 Wieder ein außergewöhnlich gutes Jahrgangsresultat: bissige Tannine, nicht marmeladig, schöne NougatAnklänge. Lagern oder trinken!

1990 Nach den überdurchschnittlichen Resultaten der drei Vorjahre ein herber Rückschlag im großen Jahr: Cassis, Gummi arabicum. Zu dünn. Lagern oder trinken.

Eine persönliche Auswahl der Besten

Weltklasse

1875 Flaschenglück.pur! Ein beglückender Gruß unserer Ahnen. 1926 Frech und parfümiert: Ewig jung – oh Dorian!? 1945 Kaum fassbare Opulenz und Aromenvielfalt! 1953 Ein großer Schmeichler des „weichen Jahrganges“ mit langem Atem. 1982 Bei Flaschenglück der größtmögliche hedonistische Cassis-Flash (100 PP)!

Exzellent

1925, 1928,1929, 1940, 1947, 1955, 1966, 1981, 1985, 1986, 1988, 1989 1987 Der Jahrgangsbeste am linken Ufer (komplex und druckvoll)