Latour 1947 – 2003

41 Weine – fast ein Menschenleben

1. DIE FORM

Die Weine wurden von den Ehegatten Wolf („WEINART“) im Forstamt zu Steinbach am Attersee wunderbar präsentiert: Es gelang nicht nur, die Weine demokratisch auf 23 Gläser aufzuteilen, sondern auch die ideale Temperatur von 16 – 18 Grad zu gewährleisten, was bei sommerlichem Raumklima schwierig ist. Die Fünferflights erwiesen sich als gerade noch überschaubar. Die Weine wurden 2 Stunden vor Beginn vordekantiert und in die Flasche rückgegossen. Da die Oxidation gerade beim Gießen selbst und nicht so sehr in der Karaffe stattfindet, können die solcherart „doppeloxidierten“ Weine als unglaublich robust bezeichnet werden.

Die Flaschenqualität war famos. Außer einem Korkschaden (1981- Magnum), waren fast alle Flaschen nahezu perfekt. Der Großzügigkeit der Herren Bovensiepen (Alpina) ist es zu verdanken, dass 9 Magnums und eine Doppelmagnum zur Verkostung gelangten; die Qualität der seltenen Großflaschen war für mich eine einzigartige Erfahrung.

2. DIE VORBEREITUNG

Eine derartige Verkostung ist nicht nur ein ästhetischer Hochgenuss, sondern auch ein kulturelles, philosophisches und transzendentes Ereignis. Ich versuchte mich meditativ zu entspannen, wobei mir die sattgrünen Wälder und der lapislazulifarbene kühle See behilflich waren. Komplementäre Eindrücke können die Sinne öffnen und weitern.

Ich hatte Sorge, die Konzentration nicht bis zuletzt angemessen aufrecht halten zu können, was sich aber in der angenehmen Atmosphäre des Forstamtes verflüchtigte.

3. DER INHALT

„Hart wie ein großer Latour“ ist ein geflügeltes Wort unter Weinliebhabern.

Wie sind sie nun die in 56 Jahren gekelterten „Grand Vins“, lassen sich allgemeine Aussagen treffen, gemeinsame Charakteristika finden, gar lineare Eigenschaften!?

Nach den Lehrbüchern sollten 1959, 1961, 1982, 1990, 1996, 2000 und 2003 „outstanding“ sein; was ist mit den kleinen Jahrgängen wie etwa 1984, 1987 und 1992? Ist der Latour – wie Robert Parker ausführt, von 1983 bis zur Modernisierung der Kellertechnik 1989 deshalb „weich“, weil die Weine kaum auf der Maische lagen und im Eilzugstempo in die Fässer kamen? Sind die gereiften Weine schon über dem Höhepunkt?

ALLGEMEINE EIGENSCHAFTEN

Durchgehend gemeinsame Charakteristika gibt es nicht. Auffallend ist die konstante Qualität, die den Latour deutlich vom Mouton, aber auch vom Lafite (Tiefpunkt zwischen 1962 und 1982) und Margaux (Eleganz braucht für einen Jahrhundertwein auch harmonische Kraft-Konzentration) unterscheidet: Ein Latour erschließt sich für mich (meist) zuerst über den Kopf, dann sickern Bauchgefühl und manchmal Schauer nach. Der exotisch-explosive Flash eines Jahrhundert-Mouton, der die Hormone in lichte Höhen führt, passierte mir nur beim 1947iger. Der Latour ist die schöne, einzigartige, kultivierte, stets gepflegte Ehefrau, ein Jahrhundert-Mouton (1982, 1945) hingegen die unwiderstehliche Versuchung.
Von der Metaphern zu den Fakten:

Verkostet wurden alle großen Jahrgänge bis 1947, ausgenommen 1961.

Kein Latour verdient weniger als 88 Punkte, kaum einer ist charakterschwach.

Die Tanninstruktur, die gerade für den „Grand Vin“ entscheidend ist, ist uneinheitlich:

Konzentriert und besonders reif sind die Tannine in den Jahren 1990, 1996 und 2000; klar: die liebt Robert Parker. Das Problem mit der etwas geringeren Säure 1990 sehe ich übrigens nicht; die Struktur passt in sich.

Mehr Charakter haben für mich 1959, 1982 und 2003: Die Tannine sind zwar reif, aber nicht seidig, sondern kernig und provokant gesagt in der Jugend im positiven Sinne sogar etwas „grün“ – auf diese Jahrgänge passt das geflügelte Wort von der „Härte“ perfekt.

Auch die „weicheren“ Jahrgänge, zu denen ich alle „70iger“, ausgenommen 1970, 1975 und eingeschränkt 1978 zähle, dann 1980, 1981, 1983, eingeschränkt 1985, 1987, 1992 und 1993, verschaffen beachtliche, von Alterstönen ungetrübte Trinkfreude und teilweise echten Charakter.

Sensationell war für mich die Entwicklung der alten Weine, va. 1947, 1953, 1955, 1959 und 1962: 1959 und 1962 sind noch nicht am Höhepunkt und grandios. Die übrigen Weine triften in ihren Charaktereigenschaften unglaublich auseinander und haben eine ganz eigene, unverwechselbare Persönlichkeit. Dies trifft bei sehr gereiften Weinen übrigens nicht nur auf den Jahrgang, sondern häufig auch auf die Einzelflasche zu (das Tertiäraroma verhilft jeder guten Flasche zur Einzigartigkeit)

DIE JAHRGANGSWERTUNGEN

Gegliedert nach Jahrgängen, nicht in der Reihenfolge der 5er- Flights (1. Flight 1999-2003, 2. Flight Frühe 90iger und 1987, 3. Flight Weine von 1978 – 1986, 4. Flight 1962, Weine von 1970 bis 1975, 5. Flight 1994 bis 1998, 6. Flight: Weine von 1982 bis 1990, 7. Flight. Weine von 1947 bis 1959, Zuletzt: 1966).

Farbangaben: Die jüngeren Weine zeigen ein dichtes, nicht opakes Rubinrot, die Jahrgänge 1994 und älter meist ein Hellrubinrot unterschiedlicher Dichte, teilweise Granatrot.

2003 (Jahrgang nach Chateauwertung „Outstanding“): 97 Pkte

Ein perfekter Wein. Die Struktur und Autorität sucht ihresgleichen: Säure, kernige Edeltannine und saftige Extraktsüße machen den Wein (noch) „trinkbar“, bevor er sich etwas verschließen wird. Die Fruchtpräsenz, die vor einem Jahr noch spürbar war, trat zurück hinter fantastische, integrierte Holztöne, die sich in Mocca und Tabaksüße verfeinern. Nach 1 Stunde rieche ich Vanilleschoten in Vollendung, unterlegt mit feiner Würze.

2002 (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 94-95 Pkte

Der Wein ist interessant: Er wirkt nicht so elegant und differenziert, aber beachtlich konzentriert und charakterstark: Limette in der Nase und am Gaumen, salziges Terroir, schwere likörige Noten, das Holz schmeckt nach Lakritze.

2001 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good/Great“): 94 Pkte

Mittelgewichtig, würzig-mineralisch, saftig und angenehm zu trinken, Kirscharomen unterlegt mit Schmalzigkeit.

2000 (Jahrgang nach Chateauwertung „Outstanding“): 95 Pkte

Der Wein ist gerade in einer schwierigen Phase und wirkt in der Nase anfänglich nicht sehr zugänglich, später elegant-verspielt. Beachtlich sind die Mineralität und der klare, präzise Stil. Die Tannine sind extraseidig; ich gestehe, dass mich dieser in der Jugend verwechselbare Stil der Premiers 00 (noch) nicht überwältigt. Die Nase zeigt junge Johannisbeeren, aber nicht grün, sondern puristisch,

1999 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good/Great“): 93-94 Pkte

Der Wein wirkt mittelgewichtig und verhältnismäßig weich. Die Struktur passt: Saftigkeit und Länge bieten Genuss. Vanilletöne und rotbeerige Primärfrucht sind spürbar.

1998 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good/Great“): 91 Pkte

Der Wein ist ganz untypisch und auffällig: Ich rieche eine prägnante Himbeere, etwas „stichig“, wie im Gärungsprozess. Der Wein ist limonadig, dicht und mittelgewichtig.

1997 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good“): 92 Pkte

Der kleinere Jahrgang hat Charakter: Die Holzintegration ist nicht abgeschlossen. Der Wein wirkt aber gefällig und sogar witzig, bedingt durch einen durchdringenden Geruch und Geschmack nach „Karamellbonbons“ und kaltem Malzkaffee.

1996 (Jahrgang nach Chateauwertung „Outstanding“): 95-96 Pkte

Weit vom Höhepunkt, bitte noch > 15 Jahre lagern! Der Wein braucht Zeit. Die Nase bietet Mineralität und Graphit sowie Moccarösttöne, weniger Primärfrucht. Später nach 1 Stunde im Glas wird die Sache komplexer. Der Wein wirkt wie parfümiert. Die Dichte, Konzentration, mit sehr reifen Tanninen, viel Extraktsüße und Saftigkeit, bieten hohen Genuss. Die Differenzierung bleibt der Alterung vorbehalten.

1995 (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 94-95 Pkte

Tolle expressive Primärfrucht, va. Preiselbeeren. Nach 30 Min. rieche ich den (angeblich) latourtypischen Eukalyptuston. Der Wein wirkt noch „hart“ und sogar kantig, aber trotzdem laabend und mineralisch. Große Länge!

1994 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good/Great“): 91 Pkte

Bereits hellrubinrot. limonadig-würzig. Angenehme runde Tannine. Mittelgewichtig.

1993 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good“): 9o Pkte

Wirkt sehr klar, mineralisch, elegant. Cassisparfum.

1992 (Jahrgang nach Chateauwertung „Mediocre“): 89 Pkte

Interessanter Geruch nach Apfelkompott, würzig, Cassis. Leichtgewichtig, aber kein Alterungston!

1991 aus der Magnum (Jahrgang nach Chateauwertung „Good“): 92-93 Pkte

Komplex. Reife Töne nach Powidl und Tabak. Balsamische Noten. Trotzdem nicht „alt“, da die Sekundärtöne in bissiges, noch nicht ausgereiftes Tannin und Säure eingebunden sind.

1990 (Jahrgang nach Chateauwertung „Outstanding“): 95 Pkte

Ein extravaganter Wein: In der Nase Sandelholz, Waldunterholz mit Beeren, später auch Cassis. Der Wein wirkt marmeladig-dicht, fast überseemäßig, wäre da nicht die Trockenheit. Die Säure ist zwar mild, aber eingebettet in dominante, reife, fast holzige Tannine. Ein Wein für die Zukunft – wieder testen in 10 Jahren. Eleganz und Komplexität erwarte ich im Alter.

1989 (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 92 Pkte

Interessant: Duft nach Jonaapfel, kristalline Töne (Steine). Mittelgewichtig. Ein Geschmack nach Kirschkernen, wie in vielen 80iger Latours spürbar.

1988 aus der MAGNUM (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 92 Pkte

Limonadige Primärfrucht, saftig, weich, aber dennoch grüntönig.

1987 aus der MAGNUM (Jahrgang nach Chateauwertung „Mediocre“): 90 Pkte

Purer leichter Cassiston, keine Alterungstönung, leichtgewichtig, mineralisch

1986 (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 92-93 Pkte

Ungetrübte Primäraromen nach Preiselbeeren. Sehr Trocken, fast astringierend. Massive Säure. Harte Tannine. Noch lagern!

1985 aus der MAGNUM (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 95-96 Pkte

Tolle Nase nach Edelmokka; Süßes versprechend in der Nase. Nach einer Stunde animalisches Blut und Schweineschmalz. Extrem Saftig und ausgewogen. Ein Trinkvergnügen am Höhepunkt. Gesüßter Kaffee!

1983 aus der MAGNUM (Jahrgang nach Chateauwertung „Good“): 90 Pkte

Weich und kirschkernig. Leicht, gefällig, keine Alterungstöne.

1982 aus der MAGNUM (Jahrgang nach Chateauwertung „Outstanding“): 96 Pkte

Die Flasche ist nicht ganz optimal: Ein leichter modriger Ton verschwindet erst nach 1 Stunde aus dem Glas. In der Nase ist zuerst ein strenger vegetabiler Ton, später Stachelbeere, Eichenholz, komplexe Beerentöne, Nach 1 Stunde Rosenduft. Perfekt, wäre da nicht der leichte „Moder“. Am Gaumen rauchig, eine tolle Struktur. Grüne Nüsse. Harte Tannine. Kein Hauch von Alter. Weit vor dem Höhepunkt!

1981 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good“): KORK – Fehlerhaft!

Etwa die Hälfte der Anwesenden, uA auch Herr Karl Heinz Wolf, beschrieben den Wein als nicht optimal, aber ohne Korkschaden.

1980 aus der DOPPELMAGNUM ex. Chateau (Jahrgang nach Chateauwertung „Average“): 89 Pkte

In der Großflasche sehr interessant; aus der Normalflasche wohl schon über dem Höhepunkt! Johannisbeere, Sekundäre Töne wie Stallgeruch; Würzig, weich und „leicht“ am Gaumen.

1979 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good“): 90 Pkte

Etwas verschlossen, dann süße Kirsche. Gefällig, weich, Kirschkerne am Gaumen.

1978 (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 94-95 Pkte

Hier beginnt bereits Alterscharakter. Klassische Sekundäraromen wie süßer Tabak, Unterholz und nasses Laub tun sich auf, dies vermählt mit erstaunlichem Cassis. Wird im Glas besser und keine Beute der Oxidation. Wie auch bei den großen alten Weinen in dieser Verkostung ist der Gaumen überrascht, dass sich trotz der Nase keine Alterstöne zeigen: Klar, bissig, mineralisch.

1975 aus der MAGNUM (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 94 Pkte

Die Serie der charakterstarken gereiften „Grand Vin“ setzt sich fort: In der Nase Blutsüße, Rosenparfüm und später „Fleisch“. Am Gaumen wieder klar, bissig, sogar noch hart, seifig und angenehm extraktsüß.

1973 aus der MAGNUM (Jahrgang nach Chateauwertung „Average“): 92 Pkte

Wieder Charakter: Kohlrabi, Cassis, Tabak. Keine Spur von Altwein. Am Gaumen sogar frisch, runde Tannine am Höhepunkt, Kautabak, limonadige Kirsche.

1971 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good“): 88 Pkte

In der Nase Unterholz, deutlich über dem Höhepunkt. Wieder weich-kirschig.

1970 (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 91 Pkte

Noch erstaunlich farbdicht. Würze-Flash in der Nase, verflüchtigt sich rasch. Lackig und bissig. Die Tannine sind kernig und edelbitter.

1966 aus der MAGNUM (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 92 Pkte

Hier finde ich wieder Eukalyptus, sowie Minze. Nichts Ältlich-Störendes! Am Gaumen laabende Süße, weiche Textur und passende präsente Säure.

1962 (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 96-97 Pkte

Einer der strahlenden Weine dieser Verkostung. Der elegante hedonistische Geruch nach Amber, unterlegt von süßen Weichseln, sucht Seinesgleichen. Später rieche ich Feigen. Der Wein ist salzig und saftig, frisch und bissig, das mit seidigen Tanninen und toller Extraktsüße.

1959 (Jahrgang nach Chateauwertung „Outstanding“): 97 Pkte

Weniger elegant aber konzentrierter als der 1962. In der Nase Trockenfrüchte mit einem Hauch von Rumtopf, komplexe Beerigkeit – Maulbeere, wieder terroirspezifische Salzigkeit, wie ein Flash! Der Wein hat seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Struktur ist perfekt: Kernige, kräftige, reife Tannine, gepaart mit erstaunlicher stoffiger Süße. Ein Fünfzigjähriger Wein – einst superhart, jetzt angenehm hart!

1955 (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 94 Pkte

Der intensivste klarste Eukalyptuston des Abends, fast präzise ohne Abschweifungen. Am Gaumen minzig und immer noch pelzig von den Gerbstoffen. Was für ein starker Methusalem!

1953 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good“): 95 Pkte
Beeindruckend und ungemein charakterstark: In der Nase Tabaksüße und vor allem fantastische Pilztöne, genauer gesagt intensivste Champignons! Am Gaumen klar, gefällig bei völlig intakter Struktur!

1952 (Jahrgang nach Chateauwertung „Good“): 93 Pkte

Welkes Laub, abgründiger Tabak, salzige Würzigkeit. Gereift und sehr spannend! Am Gaumen wieder jünger als in der Nase, beinahe klar!

1947 (Jahrgang nach Chateauwertung „Great“): 97 Pkte

In der Nase der gereifteste Wein, ungemein charakterstark: Wieder welkes, feuchtes Laub, Tabakwürze, Rumtopf und später Wald und Trüffel! Am Gaumen kaum fassbar: Limettig-Salzig. Stabile Säure, spürbare Struktur. Ein Schauer gleitet mir über den Rücken. Was für ein Wein, was für eine Flasche, Fortuna adiuvat Fortiter!

ZUSAMMENFASSUNG – die 13 Weine in der Weltklasse (95 Pkte oder mehr)

1. DIE SIEGER: 2003, 1962, 1959, 1947 (bis 97 Pkte)
2. KNAPP dahinter: 1996, 1985, 1982 (bis 96 Pkte)
3. SODANN: 2002, 2000, 1995, 1990, 1978, 1953 (bis 95 Punkte)
4. Ausgezeichnet waren 2001, 1999, 1975 und 1955 (bis 94 Pkte)