Spieglein, … wer war der Beste im ganzen Land? 1945!

Anlässlich des 70-Jahre-Jubiläums des allergrößten „post phylloxera“-Bordeaux-Jahrgangs macht sich Wolfgang Kiechl Gedanken über die Voraussetzungen eines exzellenten Weinjahres.

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Wenn auch im 21. Jahrhundert durch modernes Weingartenmanagement und Selektion in kühlen und feuchten Jahren passable Ergebnisse erzielt werden können (z. B. im Bordelais 2007), bleibt Wein erfreulicherweise ein witterungsabhängiges Naturprodukt.

Klima.pur

Um herauszufinden, warum ein Jahrgang exzellent wird, habe ich die verfügbaren statistischen Daten von mehr als 50 Jahrgängen Haut-Brion in der abgebildeten Tabelle (S. 58) verarbeitet. Aufzeichnungen gibt es zur Niederschlagsmenge, zu den sogenannten Wärmesummen, die nun ausgehend von Kalifornien die Welt zu erobern scheinen, und zu Tagen über 30 °C. Auf den Punkt gebracht, kann
gesagt werden, dass grundsätzlich nur dann Spitzenweine entstanden sind, wenn einerseits die Sommer heiß und trocken waren und andererseits der Herbst niederschlagsarm war.

Niederschlagsmenge und Qualität

Ein Blick auf die Tabelle führt leider zu keiner „Erleuchtung“. Es gibt nur einen Faktor, der noch am ehesten Schlussfolgerungen zulässt: In den meisten großen Jahrgängen gab es sehr wenig Niederschlag. Die durchschnittliche jährliche Regenmenge im Bordelais liegt zwischen 400 bis 500 mm (vgl. dazu das Burgenland mit ca. 700 mm). Große Weine entstehen aus der Kargheit und nicht aus dem Überfluss. 1945 fielen ca. 250 mm, ähnlich trocken war 1961. Aber auch das ist nicht ganz einheitlich: 1996, ein Jahr, in dem der Cabernet am Linken Ufer teilweise sehr gut reifte, fielen 516 mm. Auch im opulenten Jahrgang 1959, der als letzter großer der „alten Ära“ gilt, wurden 500 mm gemessen; 1982 waren es immerhin noch 400 mm. Umgekehrt fielen 2011 nur 213 mm bei eher bescheidenen
Resultaten. Eine weitere Schlussfolgerung, nämlich dass sehr geringe Niederschläge zu „tanninhärteren“ Weinen führen, ist zudem meist richtig (1945, 1961, 1975, zuletzt 2005 und 2010), aber nicht
immer (1990 ist weich und zugänglich).

Sonne.pur

Lassen sich aus der Niederschlagsmenge alsohalbwegs verlässliche Schlussfolgerungen ableiten, ist selbiges bei den sogenannten Wärmesummen nicht möglich. Die Kennzahl war vor mehr als 25 Jahren noch etwas aussagekräftiger (die meisten sehr guten Jahrgänge hatten damals Temperatursummen über 3.300, wie z. B. 1990). Es wird aber nun generell wärmer (Klimaveränderung). Der Durchschnittsjahrgang 2006 kommt etwa gar auf fast 3.600 (nach dem trockenen Vorjahr war der neuerliche Trockenstress zu viel für die Stöcke)! Auch die Anzahl der Tage über 30 °C ist für sich allein gesehen nicht aussagekräftig. Es führt mit Abstand 2003 (49 Tage) vor 2006, 2005, 1990 (je 32 Tage) mit jeweils unterschiedlichen Ernteergebnissen.

Wissenschaft.pur

Die Önologische Fakultät der Universität Bordeaux hat die Voraussetzungen für einen großen Jahrgang definiert. Auch hier fällt auf, dass Trockenheit außer im Frühjahr „erwünscht“ ist. 1 & 2: Eine frühe und schnelle Blüte und Fruchtentwicklung der Weinstöcke (2012 ist ein gutes Beispiel: Der späte Austrieb und die „Verrieselung“ konnten trotz eines guten Sommers nicht aufgeholt werden.). 3: Trockenstress der Weinstöcke während der „Véraison“ (Umfärbung der Trauben), also im Frühsommer (wie z. B. ideal 1949 oder zuletzt 2005 und 2010). Der Sinn liegt darin, dass das Vegetationswachstum natürlich gebremst und mehr Konzentration in den Trauben erreicht wird (in Kombination mit kühleren Nächten steigt auch die Farbtiefe mit dem Anthocyan-Anteil – großartig ist etwa die noch immer tiefe Farbe mancher 47er und 49er). 4: Volle Reifung während eines (nicht exzessiv) trockenen, sehr warmen Sommers. 5: Trockenes Wetter während der Ernte (2014 war der Herbst perfekt und hatte isoliert betrachtet die meisten Sonnenstunden und den geringsten Niederschlag seit 1961; die Ernte erfolgte im idealen Zeitfenster. Für ein großes Jahr reichte es aber nicht. Der
Sommer war einfach nicht warm genug.).

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Ernte.pur

Der optimale Erntezeitpunkt für die Rotweinernte bewegt sich im Bordelais meist im Zeitfenster vom 15. September bis 15. Oktober: Diese Erkenntnis setzt sich mittlerweile auch in anderen Regionen durch, die traditionell später ernten (z. B.: Kalifornien oder Piemont). Der Erntezeitpunkt sollte – so die Wissenschaftler – hauptsächlich von der Phenolreife bestimmt werden. Das reife Tannin und die „Zuckerreife“ sowie ihr Verhältnis zueinander bestimmen die Grundstruktur. Für die Balance kommen noch weitere Faktoren dazu (Säure, Aromatik, …). Wenn die Balance und beide Reifeparameter passen, muss man sich um die Komplexität keine Sorgen machen, die dann nur noch genügend Zeit in der Flasche benötigt, um sich zu entfalten (Ceterum censeo vinum non delendam esse!).

Tannin.pur

Wenn wir simplifizieren, können wir die großen Bordeaux-Jahrgänge je nach Tanninstruktur in zwei Gruppen aufteilen: Es gibt reife, opulente Jahre mit zugäng lichen, seidigen Tanninen, die dann auch früher genossen werden können (Die Lagerfähigkeit ist dadurch aber nicht beeinträchtigt!) wie 1947, 1959, 1982, 1990, 2003 und 2009. Ein gutes Beispiel ist der fabelhafte Latour 2003, der
bereits sehr gut „trinkbar“ ist. Demgegenüber stehen die tanninhärteren Jahre, die lange Flaschenreife benötigen, um einen vergleichbaren Trinkgenuss zu bieten wie 1945, 1961, 1975, 1986, 1996, 2000, 2005 und 2010. Legendär ist die Langlebigkeit von 1945 und 1961 (war selbst nach 25 Jahren noch nicht weich genug), 1986 ist wohl immer noch zu hart.

1945 …

… war ein Ausnahmejahr, auch unter den sogenannten Jahrhundert-Jahrgängen, weil abgesehen vom idealen Wetter eine natürliche Ertragsreduktion der besonderen Art stattfand. Am 2. Mai kam es (das war wirklich ein Jahrhundert-Ereignis) zu Schneefall und Frost im Médoc. Auf diese Art wurden bis zu 80 % der Ernte natürlich vernichtet und ohne, dass die verbleibenden Trauben (wie es oft bei Hagel der Fall ist) litten. Diese Resttrauben erlangten dadurch eine einmalige Konzentration. Im gesamten Médoc wurden knapp unter 1,5 Millionen Hektoliter Wein erzeugt. 1982 waren es vergleichsweise bereits 6 Millionen Hektoliter.
1945-klimadaten

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Bedeutend bei alten Flaschen sind einerseits Herkunft / Lagerung und andererseits der Ausschluss von Fälschungen, die leider häufiger geworden sind. Relevant ist hier eine Gesamtanalyse (Geschmacksprofil, Provenienz, Flasche, Etikett, Korken, Kapsel). Einer der österreichischen Top-Experten zur Aufdeckung von Fälschungen ist der Weinhändler Martin Buttinger (www.vin.at), der mit einer Verkostung im Oktober 2015 auch einen wichtigen Beitrag für diesen Artikel leistete. Ich hatte immer wieder das seltene Vergnügen, wohl (Wer weiß das schon genau?) echte Flaschen des
Fabel-Jahrgangs 1945 zu verkosten und beschränke mich hier aber auf die aktuellen Kostnotizen der vergangenen fünf Jahre. Ich durfte bisher alle Premiers Crus außer Margaux trinken. Im Idealfall sind die Flaschen auch heute noch relativ frisch und nicht zu tertiär bestimmt. Die Verkostungsnotizen beginnen absteigend beim – meines Erachtens – besten Wein (die erstens sechs Weine liegen nach Meinung des Autors bei „5 Gläser“, die ersten vier bei 100 Punkten).

1945 Haut-Brion

Die beste Flasche des Jahrgangs war für mich ein 2010 verkosteter Haut-Brion kraft seiner Komplexität: Die Aromen changierten von metallischer Mineralität, Karamell, Rauchigkeit bis zu pflaumiger Frucht, er war dabei engmaschig, fleischig, süß und unwahrscheinlich druckvoll. Ich habe den Wein unmittelbar vor Redaktionsschluss aus einer Halbflasche (0,375 l!) nachverkostet und der Eindruck des Jahrgangsprimus wurde bestätigt (diesmal auch betörend würzig).

1945 Mouton Rothschild

Der legendärste Wein des Jahrganges Mouton präsentierte sich mir sowohl 2012 (Großflasche) als auch 2014 in erstaunlich frischer Façon, nur sanft tertiär unterlegt, mit klarer unverbrauchter Struktur und feiner Würze. Der „Flash“ jugendlicherer Tage (Minze, Eukalyptus, Exotik) ist freilich milder geworden.

1945 Lafite Rothschild

Gerade eben im Herbst 2015 verkostet; zeigte sich brillant, feinblättrig und makellos, ohne störende tertiäre Anklänge, mit burgundisch anmutender Himbeerfrucht, limettig unterlegt, salzig, mit schöner Säure und süßem Kern. Das große Depot schadete der perfekten Flasche nicht. Das war elegante, klare Filigranität ohne heftigen Druck!

1945 Pichon Comtesse

Verkostet 2010, war vielleicht nicht so elegant, aber extrem charakterstark, dabei abgründig, präsent und von erheblicher Dichte (vgl. Quint.essenz dazu).

1945 Latour

Zeigte sich 2014 sehr reif, dabei aber von betörender Madeirahafter Süße, hohem Extrakt, beachtlicher Tiefe und Länge. Ein Jahr später war eine zweite Flasche aus demselben Keller stilistisch
ähnlich, aber noch weiter entwickelt (mehr Balsamik und Medizinal-Töne).

1945 Yquem

War 2015, wie nicht anders zu erwarten, reif, aber nicht über dem Zenit. Die bernsteingoldene Farbe bot ein Versprechen, das die Flasche einlösen konnte. Safran-Würze schwebte über Sauternes-typischen „Brot-Aromen“, Akazienhonig und extravaganter Exotik (Kokos, Kochbananen). Die Süße war erstaunlich ausbalanciert und fast im Hintergrund. Vielleicht etwas zu prägnante Bittertöne: Weidenrinde, Orangen-Likör.

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1945 Léoville Poyferré

War 2015 aus einer perfekten Flasche mit oberstem Füllstand eine Überraschung. M. Broadbent gab dem Wein vor 40 Jahren „null Sterne“. Die butterweichen Tannine und der seidige Trinkfluss waren mehr
als gefällig, die Frucht (Weichsel!) sehr klar, geradezu frisch, unterlegt mit metallischer Mineralität.

1945 Léoville Las Cases

Der Bruder aus St.-Julien, gleichzeitig 2015 verkostet, war viel weiter entwickelt als sein Vorgänger und fand sich in den tiefen Abgründen des tertiären Reiches: Torf, Zeller, abgestandenes
Blumenwasser. Eindeutig vorbei.