Chardonnay 1991, Weingut Bründlmayer, Langenlois

Ich erinnere mich kaum an ein vergleichbares Déjà-vu. Die Blindverkoster fabulierten: Ein Chablis, ein Weltklasse-Sancerre, … Nein, es war unser Kamptaler, mehr als 20 Jahre alt und kein bisschen müde. Das klirrende Säurerückgrat und eine kaum je erlebte Salzigkeit bilden das Gerüst, auf dem die Geruchselfen tanzen: grüner Apfel, Honigmelone, zarte Exotik bis hin zu floralen Wundern. Die feinen integrierten Röstaromen lassen viele im Übermaß schwelgende Burgunder vor so viel Eleganz erblassen. Gott, bei jedem Schluck dieses Salz: Nicht banal, sondern wie Tränen hungriger Liebe. Woraus schöpft diese Essenz seine Kraft? Ein minimaler Flaschenrest war noch Tage später ungebrochen und lasziv. Wie die in Moskau verurteilte Nadeschda Tolokonnikowa (Pussy-Riot-Gründerin); ihr Foto im blauen T-Shirt ging durch die Weltpresse: „¡No Pasarán!“

Da geht es mir wie bei unserem frechen Wein. Oft habe ich die Parole der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg von Dolores Ibárruri gelesen, aber ihren Kern nicht gefühlt. Sie werden nicht durchkommen! In diesem Augenblick weiß ich. Wir dürfen darauf vertrauen, auch wenn es Jahre dauern mag: „¡No Pasarán!“, Franko, Putin und all die anderen! Freuen wir uns über diesen Aufstand der Künstlerinnen, auch wenn die Zitate die eigenen Liedtexte übertreffen. Die Revolutionen der Worte sind die einzigen, die ihre Kinder nicht fressen. Aber nun wieder zu den Tropfen im Ozean: Suchen Sie in der unvergleichlichen Cappella degli Scrovegni in Padua nach der Träne der Maria Magdalena, die Giotto um 1305 dort malte. Giotto und Cimabue überwanden die Ikonographie und begründeten nicht weniger als die realistische Menschendarstellung und die moderne Malerei. Das Wunder der Fresken wird Sie vielleicht so bewegen, dass Sie ahnen, wie unser Wein schmeckt.

Jedenfalls erkennen Sie Giottos große Metapher (nach Matthäus 5, 13–16) für jede/n Suchende/n:
Ihr seid das Salz der Erde!