Cheval Blanc 1961 (1er Grand Cru Classé A, St.-Émilion)

… ist einer der erlauchtesten Weine des 20. Jahrhunderts. Nicht die opulenten Mythen (1947, 1949 und 1959), die unsere Sinne mit siruphaften Exzessen bestürmen, sondern dieser Wein ist eine Proust‘sche Göttin, schön und leicht wie Dianen. Sie zierte(n) sich Jahrzehnte, bevor sie unlängst ganz ihre harte Hülle abstreifte und nun Einblicke in Traumwelten voll Nektar und Ambrosia gewährt: Kakao, Nougat, Krokant, orientalischer Gewürzbasar hin bis zur kolibrihaften, floralen Dekadenz.

Die Textur ist gefertigt wie ein kostbares Bild von Jan Vermeer van Delft. Zuerst erkennt der Betrachter das Thema und die Komponenten, bei Annäherung werden die Flächenwelten der Details offenbar: Farbpunkte oder Geruchssplitter aus der Camera obscura bzw. Laterna magica. Die Details und das Ganze sind zugleich präsent, komplex und doch so einfach! Marcel Proust, der für subtile Wahrheiten empfänglich war, verkündete das Genie Vermeers, freilich Jahrzehnte nach dem richtungsweisenden Aufsatz von Thoré-Bürger in der „Gazette des Beaux-Arts“ 1866.

Die vollkommene Ruhe der Bilder, trotz Millionen Farbtupfen, spiegeln wahre Ehrfurcht vor der Schöpfung wie eine Allegorie auf die Malkunst und unseren Wein, deren Einzelteile immer mehr zusammenfinden und verschmelzen zu einem unüberbietbaren Mosaik. Mit den Vettern Haut-Brion und Latour steht Cheval Blanc am Olymp des für mich gerade strahlendsten Bordeaux-Jahrganges 1961 und löst die alten Mythen ab, die aber, wie uns Roland Barthes lehrt, nicht so leicht weichen werden. Ich stelle mir Barthes beim Verkosten vor. Vielleicht würde er sagen: „Ja, ich gehe davon aus:
Das ist Ekstase.“ Und Proust: „In der Sekunde nun als dieser Wein meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.“