Jean-Luis Chave, Hermitage blanc 1996

Die Cuvée besteht aus Roussanne (15 %), der wohl edelsten Weißweinsorte des Rhonetals, und Marsanne blanche. Trotz geringerer Menge bestimmt Petite Roussette, wie Roussanne noch genannt wird, von uralten Stöcken mit Mineralität und Blumigkeit den Charakter des großen Weines. Weiße „Dornröschen“ von der Rhone unterliegen einer besonderen Metamorphose: Nach der ersten  Fruchtphase verschließen sie sich meist lange, um mit komplexen Tertiäraromen zu erwachen. Die dann cremige Textur sowie die Lindenblüten- und Honig-Aromen (mein englischer Tischnachbar rief spontan aus: „Oh, we are Honeysuckers!“) werden durch florale Aromatik ausbalanciert. Unsere abgehärteten Gaumen reagieren oft verständnislos auf die weichen Weine der Hermitage. Großartige rost(tizian)rote Roussane-Trauben mit Säurerückgrat machen unseren Wein zum kolibrihaften, zeitlosen Kunstwerk.

Auch Tiziano Vecellio zeigte ungebrochene Kraft und keine Angst vor dem Unendlichen (so E.-Ch. Flamand). An der „Schindung des Marsyas“ (Sind Sie auch schon nach Kromericz/Kremsier gepilgert, wo unvermutet dieses Hauptwerk abendländischer Kunst hängt?) arbeitete er noch im letzten und wahrscheinlich 85. Lebensjahr, als jene Pest in Venedig wütete, der er selbst erliegen sollte. Die aufflammenden braunroten Töne, die musikalische Untermalung und der symbolhafte präimpressionistische Stil (nach Goethe habe Tizian nicht ein Thema gemalt, sondern die Idee eines Themas) verklären die Grausamkeit, mit der Phöbus den unterlegenen frechen Herausforderer häutet, mit einer pittoresken, spielerischen Aura.

Unser Wein ist selbstbewusst wie der Satyr, der glaubte, mit den Tönen seiner Doppelflöte selbst Apoll besiegen zu können. Ebenso lästerlich will ich mit meiner Laura (natürlich nur mit Petrarcas Absolution) dem Silenen und der „Roussanne“ huldigen: Gesegnet sei die erste süße Wunde, der Schmerz, den mich die Liebe ließ bestehen …